Im Porsche zum Jobcenter Ein Paragraf machts möglich: So zocken uns kriminelle Clans ungeniert bei Hartz 4 ab

FOCUS-Online-Redakteur Matthias Hochstätter

Montag, 20.12.2021, 15:04

Sie wohnen in Luxus-Villen und fahren Nobel-Karossen - dennoch bekommen viele Mitglieder von kriminellen Clans Hartz 4 vom Staat. Und der rückt das Gratis-Geld ohne viel Kontrolle heraus. Großzügige Gesetzeslücken laden zum Hartz-4-Betrug ein - seit nunmehr über 15 Jahren. Die Politik schaut weg. Getty, dpa
"Der Pate von Berlin", Mahmoud Al-Zein

Die Ermittler staunten nicht schlecht, als sie im Juni die Millionen-Villa des Clan-Chefs Mahmoud Al-Zein in Leverkusen-Rheindorf in Augenschein nahmen: Die SEK-Beamten fanden dort Bargeld in Höhe von fast 300.000 Euro, dazu Unmengen Designer-Klamotten, Schuhe, Schmuck und edle Uhren. Im Fuhrpark glänzten Porsche, Ferrari und der obligatorische AMG-Mercedes. Dennoch soll die Familie des mittlerweile aus Deutschland ausgereisten Clan-Chefs insgesamt Hartz-IV-Sozialleistungen in Höhe von mindestens 400.000 Euro bezohen haben - allein seit 2015. FOCUS Online berichtete.

Das Phänomen ist nicht neu. Ob in Leverkusen-Rheindorf oder in Berlin-Neukölln: Kriminelle Mitglieder von Clans lieben den Luxus und protzen gerne, dennoch beziehen sie illegal Hartz IV. Ist das nicht unter der Würde von Drogen-Händlern, Bankräubern und Schutzgeld-Erpressern? Warum geben sich gutverdienende Verbrecher noch mit Peanuts vom Jobcenter ab?

"Warum sollten sie es denn nicht machen?", meint Ralph Ghadban, Experte für Clan-Kriminalität, im Gespräch mit FOCUS Online. "Das sind große Familien mit Dutzenden von Kindern. Da kommen über Hartz IV schnell mehrere tausend Euro pro Monat zusammen. Und dann gibt es auch noch die medizinische Versorgung über die Krankenkassen umsonst! Warum sollten sich die Clans das entgehen lassen?"

Hartz-4-Betrug: Mangelhafte Rechtsgrundlage im Sozialgesetzbuch

Die kriminellen Clans in Deutschlands Großstädten sagen also nicht nein zum Gratis-Geld vom Staat. Zudem machen es ihnen Staat und Behörden auch nicht allzu schwer, mit dem Hartz-IV-Betrug ungeschoren davonzukommen. Denn der Staat baut beim Arbeitslosengeld II auf Ehrlichkeit. Eine Anfrage bei der Bundesagentur für Arbeit in Nürnberg ergibt: "Prinzipiell sind alle Personen, die Grundsicherung beziehen, gegenüber den Jobcentern mitwirkungspflichtig. Sie müssen alle Angaben im Antrag wahrheitsgemäß machen und jede Änderung in ihren persönlichen Verhältnissen, die sich auf die Höhe der Leistungen auswirken kann, unverzüglich mitteilen. Die Jobcenter gehen grundsätzlich davon aus, dass Antragstellerinnen und Antragsteller ihre Mitwirkungspflichten erfüllen."

Zwar prüft das Jobcenter vierteljährlich und automatisch die Daten - etwa bei Rentenbezug oder Arbeitnehmertätigkeit, doch Informationen des Finanzamts zur Grunderwerbssteuer oder zu Bankdaten aus dem Ausland oder der Kfz-Zulassungsstelle erhält das Jobcenter nicht. Die mangelhafte Rechtsgrundlage hierfür bildet der Paragraf 52 des zweiten Sozialgesetzbuchs (SGB II).

"Für andere Einkommens- oder Vermögensarten gibt es keine gesetzliche Grundlage", so die Bundesagentur zu FOCUS Online: "Sie dürfen nicht abgeglichen werden." Warum? "Der Datenschutz, die Persönlichkeitsrechte und die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit müssen immer beachtet werden", heißt es aus Nürnberg.

Bargeld in rauen Mengen: In der Villa entdeckten die Polizisten bei Al Zein rund 120.000 Euro in einer Plastiktüte, dann 158.000 Euro in einem Toiletten-Beutel.

Mitarbeiter des Jobcenters können bei einem begründeten Verdacht den Missbrauch zwar der Staatsanwaltschaft anzeigen, doch das kommt selten vor. Der Personal-Mangel in den Jobcentern lässt Ortstermine oder eingehende Recherche zum Sozialbetrug kaum zu. "Es gibt faktisch keine Kontrollen", sagt Clan-Experte Ghadban, der über den Hinweis zum Datenschutz nur milde lächeln kann: "Ich weiß auch nicht, warum die entsprechenden Gesetze nicht angepasst werden."

Hartz IV gibt es immerhin schon seit 2005. Und auch davor zapften viele Clans bereits die Sozialhilfe schamlos an. Wie ungeniert die Clans sich im Sozialstaat bedienen, zeigen auch diverse Videos im Netz, in denen sich die "Bedürftigen" herzlich über die einwandfreie Zahlungsmoral der Jobcenter lustig machen.

FDP-Mann Kober: "Empörend, mit welcher Dreistigkeit Einzelne den Sozialstaat ausnutzen"

Die Union hatte nun 16 Jahre lang als Kanzlerinnen-Partei die Möglichkeit, die Schlupflöcher für den organisierten Sozialbetrug zu stopfen. Doch passiert ist nichts. Auf Anfrage von FOCUS Online herrscht hierzu bei der Unionsfraktion betretenes Schweigen. Leider müsse man da passen, heißt es. Und die Ampel?

Bei der FDP ist man ziemlich sauer über den jahrelangen Schlendrian beim bandenmäßigen Sozialleistungsbetrug: "Unter anderem hatte ich dazu zwei Kleine Anfragen an die alte Bundesregierung gerichtet", sagt der sozialpolitische Sprecher der FDP-Bundestagfraktion, Pascal Kober zu FOCUS Online: "Es ist einerseits empörend, mit welcher Dreistigkeit Einzelne den Sozialstaat ausnutzen, zugleich müssen wir aber andererseits aufpassen, dass nicht Misstrauen und Generalverdacht das Bild von Leistungsempfängern prägen."

Und jetzt? Kober verweist auf den Koalitionsvertrag, in dem die Ampel-Partner eine umfassende Digitalisierung und Abfrage unter den verschiedenen zuständigen Behörden vereinbart hätten: "Mit den im Koalitionsvertrag vereinbarten zusätzlichen personellen Ressourcen in den Jobcentern schaffen wir auch zeitliche Freiräume für Prüfungen. Darüber hinaus haben wir im Koalitionsvertrag die Bekämpfung der Clankriminalität als einen Schwerpunkt unserer Sicherheitsbehörden vereinbart."

Um sinnvolle Lösungen gehe es nun, verspricht Kober, "was selbstverständlich auch den Paragrafen 52 SGB II betrifft". Man darf gespannt sein, wie hart die Ampel-Koalition tatsächlich bei kriminellen Clans zulangt. Doch eins ist bereits jetzt klar: Die Clans werden demnächst garantiert auf Hartz IV verzichten müssen. Die Ampel will die Stütze nämlich in "Bürgergeld" umbenennen. Das hört sich auch für Kriminelle viel angenehmer an.


Quelle: focus online